Der Agenda 2010 droht das Schwarze Loch

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March 06, 2013, Handelsblatt online

(Op-ed by Klaus F. Zimmermann)

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Die Erfolgsstory der Agenda 2010 k�nnte j�h zu Ende gehen. Denn noch sind nicht alle Reformziele erreicht. Wenn die Regierung nicht handelt, versinkt Deutschland in einem arbeitsmarktpolitischen Loch.

In den zehn Jahren seit Verk�ndung der �Agenda 2010� vom 14. M�rz 2003 hat der deutsche Arbeitsmarkt eine eindrucksvolle Aufholjagd erlebt. Lag im Februar 2003 die Arbeitslosenquote bei besorgniserregenden 12,5 Prozent, wurde im Februar 2013 eine saisonbereinigte Quote von 6,9 Prozent gemessen. Sprachen wir seinerzeit noch von einem un�berwindbaren, ungebremst steigenden Arbeitslosigkeitssockel, so verzeichnen wir heute einen Durchbruch beim Abbau der Dauerarbeitslosigkeit.

伏尔zehn几年galten静脉祖茂堂geringes水平火线Erwerbst�tigkeit, institutionelle Verkrustungen am Arbeitsmarkt und zu teure soziale Sicherungssysteme als Bedrohung f�r die Wettbewerbsf�higkeit des Standortes Deutschland. Heute ist Deutschland wieder ein weltweit anerkanntes Wirtschaftsmodell. Die Zahl der Erwerbst�tigen erreichte Anfang 2013 den neuen Rekord von 41,4 Millionen. In der globalen Wirtschaftskrise nach 2008 hat sich Deutschland erstaunlich gut geschlagen als nahezu einziges Land, in dem kein massiver Anstieg der Arbeitslosigkeit verzeichnet werden musste. Andere L�nder, die erst am Beginn eines schmerzlichen Reformprozesses stehen, schauen mit Hoffnung und Respekt nach Deutschland.

An diesem Ergebnis haben viele ihren Anteil. Nicht nur die politischen Rahmenbedingungen haben gestimmt; ein wichtiger Erfolgsfaktor waren auch eine besch�ftigungsorientierte ma�volle Lohnpolitik sowie gr��ere Flexibilit�ten bei den Arbeitszeiten und anderen tarifvertraglichen Regelungen wie �ffnungsklauseln. Jedenfalls hat sich der deutsche Arbeitsmarkt gerade auch durch das verantwortungsvolle Agieren der Sozialpartner sowie von Unternehmen, Arbeitnehmern und Betriebsr�ten wesentlich st�rker ver�ndert, als dies bei einer Konzentration allein auf die staatliche Ebene erfolgt w�re.

Neben dieser Bilanz ist eine weitere Entwicklung gesellschaftspolitisch mindestens ebenso bedeutsam: In Deutschland hat sich zugleich ein Mentalit�tswandel vollzogen � und Ver�nderungen in den K�pfen sind nicht nur am Schwierigsten durchzusetzen, sondern auch am Wichtigsten, um nachhaltige Erfolge zu erzielen. Mit der �Agenda 2010� hat Deutschland Abschied genommen von Denk- und Verhaltensmustern, die jahrzehntelang die deutsche Politik und die Arbeitsmarktpraxis gepr�gt und geleitet hatten. Dabei ging es darum, die Benachteiligten der guten Wirtschaftsentwicklung am Arbeitsmarkt durch Sozialleistungen ruhig zu stellen. Das Stillhalteabkommen musste die Gesellschaft durch immer st�rker steigende Arbeits- und Sozialstaatskosten teuer bezahlen.

Die neue Betonung von Vermittlung in Arbeit, Begrenzungen staatlicher Leistungen, mehr Eigenverantwortung und gr��erer Flexibilit�t und seri�ser �berpr�fung der Effizienz der eingesetzten arbeitsmarktpolitischen Instrumente bedeutete im Kern eine Abwendung von einer prim�r kompensierenden Politik durch eine bewusst aktivierende Arbeitsmarktpolitik. Transferleistungen wurden verst�rkt an das Prinzip von �Fordern und F�rdern� gekn�pft.

Dieser ver�nderte Ansatz dokumentiert sich vor allem in dem Reizwort �Hartz IV�, seit im Januar 2005 Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II zusammengelegt wurden. An die Stelle eines �berwiegend passiven und statusorientierten Sicherungssystems trat damit ein System der Grundsicherung mit stark aktivierenden Elementen. Langfristiger Transferbezug wurde so � auch in Verbindung mit der verk�rzten Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I � weniger attraktiv; die Notwendigkeit, sich den Zumutungen des Arbeitsmarktes zu stellen, wurde unabweisbar.

“Begriff Sozialstaat neu ausrichten”

Hartz IV sollte deshalb � bei aller Kritik im Detail - grunds�tzlich vor allem als eine Chance zur Aktivierung und Integration von Personen angesehen werden, die vor dieser Reform kaum betreut, unterst�tzt und integriert - letztlich also alleine gelassen wurden.

Mit einem sehr breiten B�ndel von Ma�nahmen wirtschafts-, sozial- und arbeitsmarktpolitischer Art ist es der Agenda 2010 insgesamt �berzeugend gelungen, unseren Sozialstaat wieder zukunftsfester zu machen. Immerhin hatten sich die Sozialausgaben in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten mehr als verdreifacht; die Grenzen der Finanzierbarkeit bei einer insgesamt stagnierenden Wirtschaftsleistung waren l�ngst erreicht. Zugleich aber wurde trotz dieser Explosion der finanziellen Leistungen die von den B�rgern gef�hlte �Gerechtigkeitsl�cke� immer gr��er, weil die Anspr�che noch schneller wuchsen.

来自这位�Sozialstaatsfalle�konnte努尔grundlegender Mentalit�tswandel und Paradigmenwechsel herausf�hren. Denn das �berkommende Denken f�hrte zunehmend in die falsche Richtung, weil nicht der sparsame und zielgenaue Umgang mit diesen solidarisch erbrachten Mitteln bestimmend wurde, sondern ein generelles Anspruchsdenken, das den Wohlfahrtsstaat zunehmend als permanenten Reparaturbetrieb f�r alle individuellen Schicksalsf�lle des Lebens missverstand. Hier musste umgesteuert werden.

W�hrend die vielen korrigierenden Ans�tze jener Agenda-Rede am 14. M�rz 2003 sehr breit, vielfach �u�erst kritisch diskutiert wurden, blieben deren Zukunftsentw�rfe im �ffentlichen Diskurs leider eher ein Randthema. Es wurde ziemlich ausgeblendet, dass jene Regierungserkl�rung von Bundeskanzler Gerhard Schr�der noch eine weitere zentrale Botschaft hatte: Den Einschnitten bei den sozialen Leistungen und der Hinwendung zu mehr Eigenvorsorge sollten verst�rkte Anstrengungen und �ffentliche Investitionen im Zukunftsbereichen wie Familie, Generationengerechtigkeit, Kinderbetreuung, Bildung, berufliche F�rderung und Forschung gegen�ber stehen.

Die Begriffe �Sozialstaat� und �soziale Gerechtigkeit� sollten ganz bewusst mit ver�nderten Inhalten neu ausgerichtet werden. Leider ist es bis heute nicht gelungen, das in der Rede angelegte Zusammenspiel zwischen der Reformnotwendigkeit und der Vision einer chancengerechteren Gesellschaft mit gr��erer Teilhabe aller besser zu vermitteln.

Die mit der Rede am 14. M�rz 2003 angesto�enen Reformziele sind l�ngst noch nicht alle erreicht. Dies gilt insbesondere f�r die Wiedererlangung der Vollbesch�ftigung, also dem Erreichen einer Arbeitslosenquote von h�chstens drei Prozent. Die regionalen Unterschiede, das Gef�lle zwischen den Branchen ist nach wie vor sehr hoch. Deshalb muss der Arbeitsmarkt noch offener und durchl�ssiger werden - speziell f�r Personen, die aus einer mehr oder minder langen Periode des Leistungsbezugs oder gering bezahlter Qualifikation in eine angemessen bezahlte Erwerbst�tigkeit wechseln wollen und sollen. Am unteren Rand des Arbeitsmarktes geht es um die Verbesserung der Besch�ftigungsstabilit�t und der Sicherung von Aufw�rtsmobilit�t. Hier sind neue Initiativen gefordert.

"Gro�es gemeinsames Ziel: Vollbesch�ftigung"

Allerdings l�sst die Dynamik des Aufholprozesses auf unserem Arbeitsmarkt nach. Deshalb ist zehn Jahre nach jener Regierungserkl�rung von Gerhard Schr�der unter dem Titel �Mut zur Ver�nderung� eine neue Bewertung und Positionierung unserer Besch�ftigungsstrategie dringlich, damit die Erfolgsstory nicht schon bald wieder abrei�t. Dabei muss Kurs mit der Forderung gehalten werden, dass Arbeit vor Versorgung steht.

Die daf�r n�tige Sicherung von Chancengerechtigkeit muss vor allem durch eine noch bessere Verzahnung von Ausbildungs- und Besch�ftigungssystem erreicht werden. Dies umfasst die fr�hkindliche Erziehung genauso wie die Sicherstellung von Kindergartenpl�tzen und Ganztagsschulen. Die Bewahrung und Kr�ftigung der weltweit beachteten deutschen dualen Lehrlingsausbildung geh�rt dazu. Aber auch die Realisierung einer lebenslangen Weiterbildung und Neuorientierung im Beruf muss eine institutionalisierte Basis bekommen. Hier finden wir derzeit nur ein gro�es, schwarzes arbeitsmarktpolitisches Loch.

Neue Wege und Mentalit�tswechsel m�ssen aber auch in anderen Bereichen gefunden werden, um Chancengerechtigkeit herzustellen: Dazu geh�ren Freir�ume f�r neue Selbst�ndigkeiten, die in einer flexiblen Arbeitswelt Beruf und Familie n�her zueinander bringen k�nnen. Selbst�ndig sein sichert vor Arbeitslosigkeit. Erleichterte Existenzgr�ndungen k�nnen ein bedeutsamer Motor des k�nftigen Besch�ftigungswachstums sein. Eine gr��ere berufliche Mobilit�t kann mithelfen, die wachsenden regionalen Ungleichgewichte an den Arbeitsm�rkten besser auszubalancieren. �ltere Menschen m�ssen ermutigt werden, l�nger am Erwerbsleben teilzunehmen. Betriebliche B�ndnisse der Sozialpartner brauchen gr��ere Freiheiten.

War fr�her die Spaltung zwischen Erwerbst�tigen und Nichterwerbst�tigen der zentrale gesellschaftliche Konflikt, so problematisieren wir heute vor allem die Unterschiede zwischen �Normalbesch�ftigten� und �atypischen Besch�ftigungsformen�. In der Tat gibt es hier Ausw�chse und Fehlentwicklungen. Hier regulierend nachzusteuern, kann helfen, die Situation der Besch�ftigten zu verbessern, ohne die Dynamik in diesen Bereichen abzuw�rgen und Einstiegsm�glichkeiten in das Arbeitsleben unn�tig zu behindern.

Das gro�e gemeinsame Ziel der Vollbesch�ftigung erreichen wir allerdings nur, wenn vor allem jene Personen eine effektivere Vermittlung ins Arbeitsleben erfahren, die die gewichtigsten Problemgruppen bilden. Hier kommt heute Hilfe immer noch zu sp�t und die Betreuungsstrukturen sind unbefriedigend. Dies gilt speziell f�r prognostizierbare Langzeitarbeitslose, n�mlich Ungelernte, �ltere und Menschen mit sozialen wie famili�ren Handicaps. N�tig w�re aber eine eigene, starke Institution, die f�r diese Personen den gesamten Prozess des Weges aus der Arbeitslosigkeit von Anfang an begleitet und steuert.

Die Dynamik des Wandels der Arbeitsm�rkte stellt Politik, Wirtschaft und Gesellschaft k�nftig vor noch viel gr��ere Herausforderungen als vor zehn Jahren. Insbesondere der drohende R�ckgang der Bev�lkerung � bis 2030 auf etwa 77 Millionen, bis 2060 auf 65 Millionen - stellt uns vor ganz neue Fragen. Bisher ist der deutsche Arbeitsmarkt auf diese Ver�nderungen jedoch eher schlecht vorbereitet.

Klaus F. Zimmermann ist Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn. In diesem weltweit gr��ten Forschungsnetzwerk der �konomen arbeiten mehr als 1.200 Wissenschaftler zusammen.

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